NON HO SONNO

Originaltitel NON HO SONNO
Alternativtitel SLEEPLESS
   
   
Land und Jahr ITALIEN 2000
   
Regie Dario Argento
Produktionsfirma Opera Film (Dario Argento, Claudio Argento)
Ausführender Produzent Claudio Argento
   
Drehbuch Dario Argento, Franco Ferrini & Carlo Lucarelli
Story Dario Argento, Franco Ferrini
Kamera Ronnie Taylor
Schnitt Anna Napoli
Musik Goblin
Special Effects Sergio Stivaletti
Ausstattung Antonello Geleng
Kostüme Susy Mattolini
Herstellungsleitung Tommaso Calevi
   
Darsteller Max von Sydow, Stefano Dionisi, Chiara Caselli, Gabriele Lavia, Paolo Maria Scalondro, Rossella Falk, Roberto Zibetti, Roberto Accornero, Barbara Lerici, Barbara Mautino, Conchita Puglisi, Massimo Sarchielli, Elena Marchesini, Guido Morbello, Aldo Massasso u. a.
   
deutsche Erstaufführung -
italienische Erstaufführung 25.01.2001
Format 1:1,85
Verleih offen (ital. Verleih: Medusa)
Laufzeit 119 Minuten (= 3260 Meter) [ital. Fassung]
Home-Entertainment DVD:
Medusa Home Entertainment, Italien (112:10 Minuten, ungeschnitten, 1:1,85 - anamorph, 5.1 DTS [ital.] - 5.1 Dolby Digital [ital./engl.], ital. & engl. Untertitel (ausblendbar, Extras haben keine engl. Untertitel!], PAL, Code 2).

 

WARNING: MINOR SPOILERS!

In den neunziger Jahren zerfiel die Mannschaft der Bewunderer Dario Argentos in zwei Fraktionen: diejenigen, die vorwiegend Gefallen an den knalligen und grellfarbenen Schlachtengemälden im Stile von SUSPIRIA oder INFERNO gefunden hatten und so gar nicht mit dem Weg harmonierten, den der Meister nach OPERA eingeschlagen hatte; und diejenigen, die bereit waren, zusammen mit Argento zu neuen Gestaden aufzubrechen und den Geist des Ästheten Argento auch in Filmen wie THE STENDHAL SYNDROME aufspüren konnten. Beide Gruppierungen zeigten sich aber ausgesprochen ernüchtert, als sich Dario mit der Verfilmung der Gaston-Leroux-Novelle IL FANTASMA DELL'OPERA einen alten Wunsch realisierte. Es gibt sehr, sehr wenige Menschen, die diesen Film mögen, und während man die darstellerische Leistung der wundervollen Asia A. in THE STENDHAL SYNDROME noch uneingeschränkt beklatschen mochte, so schien das Auge des Vaters in dem Folgefilm doch getrübt zu sein vom Elternstolz. Ich gestehe ehrlich: Als der Mann in dem Rattenwagen auftauchte, brach ich beim ersten Ansehen die Sitzung ab! Auch die Perücke von Julian Sands bot den Hassern des Filmes mehr als nur ein wenig Anlass zu bösem Spott, und so blieb für viele außer der sauberen Kameraarbeit von Ronnie Taylor und dem exzellenten Morricone-Score kaum Platz für stehende Ovationen.

So verwundert es nicht, dass ich dem Erlebnis des neuen Argentos mit gemischten Gefühlen entgegenfieberte. Zwar ist mein Vertrauen in die Kunstfertigkeit des Regisseurs grenzenlos, wie ich auch seine künstlerische Vision im gegenwärtigen phantastischen Kino für durchaus beispiellos halte. Doch da kreiste dieser verdammte Rattenwagen in meinem Hinterkopf und belastte schwer meine Wertschätzung eines Mannes, den ich bereits mehrere Male als überaus liebenswerten und intelligenten Menschen kennen gelernt habe.

NON HO SONNO - um es vorwegzunehmen - ist meines Erachtens keine Meisterleistung, wie der erwähnte LA SINDROME DI STENDHAL. Er fügt dem Kanon des Filmemachers keine wesentlich neuen Aspekte hinzu. Allerdings erschöpft er sich eben nicht nur, wie vereinzelt zu hören war, in einer Retrospektive alter Kniffs und Kunsttricks, sondern erzählt eine in sich stimmige und streckenweise mordsspannende Geschichte, deren artifizielles Erscheinungsbild ein Gerüst ist für eine haarsträubende Mär um kaputte Familien und die Ästhetik des Mordens.

Zu Beginn des Filmes erscheint Inspektor Moretti (Max von Sydow), der dem jüngsten Opfer eines grausamen Mörders die letzte Ehre erweist. Mit einem Musikinstrument (einem englischen Horn) förmlich zerfetzt, wird die Leiche einem Zwerg zur Last gelegt, Vincenzo de Fabrizis, der einst unter Pseudonym einige blutrünstige Thriller verfasst hat und jetzt davon besessen scheint, die Verbrechen auch in der Realität nachzuahmen. Moretti trifft den Sohn des Opfers, einen kleinen Jungen, dem er schwört, nicht zu ruhen, ehe der Mörder seiner Mutter gefasst ist.

17 Jahre später gerät eine Prostituierte in Schwulitäten, als sie versehentlich die Mappe eines offensichtlich sadistisch veranlagten Freiers einsteckt. In der Mappe entdeckt sie Artikel über diverse zurückliegende Mordtaten, verziert von Privatfotos der Opfer. Nicht zu Unrecht vermutet sie, dass ihr letztes Stündlein in greifbare Nähe gerückt ist ... Auch ihre Freundin gerät in den Zugriff des Killers und muss ihr Leben lassen. Ein Hinweis bedeutet, das die Morde in Zusammenhang stehen mit dem berüchtigten "Killer Dwarf". Jener hat allerdings vor Jahresfrist Selbstmord begangen und kommt somit nicht für die Patenschaft der Bluttaten in Frage. Der mittlerweile pensionierte Moretti schaltet sich in die Ermittlungen ein. Er bekommt recht bald heraus, dass der Mörder offensichtlich die Romane von De Fabrizis imitiert, welche ihrerseits auf einem Wiegenlied beruhen, welches den "Struwwelpeter" an Grausamkeit bei weitem übertrifft. Das Wiegenlied handelt von einem Bauern, der die Tiere in seiner Umgebung blutig beseitigt. In entsprechender Weise scheint der neue Killer die Mordtaten zu inszenieren und hinterlässt - wie einst De Fabrizis - ausgeschnittene Tierfiguren am Tatort.

Moretti trifft Lorenzo, den Sohn des Opfers aus dem Prolog, der mittlerweile ebenfalls Privatnachforschungen anstellt. Offenbar ist der Mörder in seiner direkten Umgebung zu suchen, doch viele Verdächtige sind's, die sich da herumtreiben. Als eine Exhumierung ergibt, dass der Leichnam des mörderischen Zwerges aus dem Sarg verschwunden ist, besteht endgültig Unklarheit: Begeht etwa der Verbrecher von einst die neuen Bluttaten? Das nächste Opfer - das geht aus dem Kinderreim hervor - wird ein Schwan sein, dem der Hals abgetrennt wird, und Lorenzos Freundin Gloria tritt in einer Aufführung von "Schwanensee" auf ...

Es ist sehr schwierig, NON HO SONNO zu analysieren, ohne viele der zahlreichen Wendungen zu verraten. Trotzdem möchte ich erwähnen, dass der erste Teil des Films sich ausnimmt wie ein Retro-Giallo, der viele der Elemente der von mir ja so geliebten Filmgattung Revue passieren lässt, inklusive der ausgereizten Spannungsszenen in surreal verfremdeten (z. B. in satten Primärfarben schwelgenden) Kulissen. Später jedoch wechselt der Film bezeichnenderweise zu sehr realen, wirklich erscheinenden Settings, die viel mit den späteren Argento-Werken gemeinsam haben.

Das Haus des Mörders Vincenzo de Angelis führt den Zuschauer zurück in die Welt von PROFONDO ROSSO, wobei die Akteure die Welt der Kindheit durch ein Loch in der Hecke betreten, welches als Portal zu einer vermeintlich unbeschwerten Entwicklungsphase herhält. Tatsächlich ist das Grauen erneut im Schoß der Familie angesiedelt, und während in PROFONDO ROSSO ein Kinderbild die Auflösung bereithält, so ist es hier ein Kinderreim, der nicht nur den Rhythmus der Vergangenheit vorgibt, sondern auch den der unschönen Zukunft. Vincenzos Familie - abgesehen von seiner ohnehin schon kompromittierten Gestalt - wird verkörpert von einer überspannten und gruselgeistigen Mama, die von der Veteranin Rossella Falk gespielt wird. Aber auch die anderen Familien sind hochgradig kompliziert: So hat Lorenzo, dessen Mutter ein Opfer des Mörders wurde, einen schmerzhaft abwesenden Vater, von dem auch nur bekannt ist, dass er seine Familie durch die Gegend geprügelt hat. Sein bester Freund ist Giacomo, dessen schwächliche Natur ein ständiger Reibungspunkt mit seinem reichen Vater darstellte, der sich einen "männlichen" Sohn erhofft hatte. Dieser Vater (ein Anwalt) wird dargestellt von dem Theaterschauspieler und -regisseur Gabriele Lavia, welcher schon in PROFONDO ROSSO Probleme mit seiner Mama und in INFERNO zwar nicht Gold in der Kehle hatte, aber ein Messer! (In Damianis meisterlichem GIROLIMONI, DAS UNGEHEUER VON ROM spielte er in jungen Jahren bereits einen geisteskranken Kindermörder und ist somit vorbelastet ...) Das zerbrochene Ideal der heilen Familie führt einmal mehr zu unschönen Dingen, die von Ronnie Taylors glasklarer Kamera unbestechlich eingefangen werden.

Und ja, der Film ist sehr, sehr brutal! Keine Frage, dass die deutsche Fassung hier wieder einmal vom Ärgsten bereinigt sein wird. Die explizit dargestellten Gewaltakte - so verstörend sie auch anzusehen sein mögen - sind aber in bester Argento-Tradition alles andere als selbstzweckhaft und betonen das körperliche Element. Wenn die körperliche Liebe fehlschlägt, so legen es Argentos Filme nahe, so löst sich das auf in ihrer Pervertierung. Und die ist eminent heftig: Einem Opfer werden (siehe PROFONDO ROSSO) an der Wand die Zähne eingeschlagen. Einem anderen werden TENEBRE-ig die Finger amputiert, was so manchen vergraulen mag. War aber auch in Shakespeares MACBETH Blut das Grundthema (stellvertretend für fehlgeschlagene Familienbande), so dient die Brutalität hier der Versinnbildlichung einer kindlichen Vorstellung von Sexualität, die nichts anderes ist als der Ausgleich für fehlende Elternliebe. Das wird besonders im wendungsreichen Finale deutlich, das ich hier aber nicht verraten möchte. Nur soviel: Kindheit ist hier alles, und was einst verbockt ward, wird hier zum grausigen Jubelsturm. Das steht durchaus im Einklang mit den realen Psychopathen, die ihre Kindheitserinnerungen nicht selten zwanghaft ausagieren. Sehr, sehr verstörend, das Ende.

Ein weiterer Subtext, auch unterstrichen vom ungewöhnlichen Epilog, der sich über den Abspann erstreckt, ist die Auseinandersetzung zwischen kreativer Intuition und maschineller Rationalität. Während Inspektor Moretti den für Argento üblichen Schnüffler aus Passion darstellt, dessen Fahndungsmethoden eher dem Gefühl folgen als der trockenen Statistik, sind die übrigen Polizisten des Filmes sture Paragraphenhengste, deren Weisheit einzig erlernter Natur ist und dem Duktus der Computer und des kriminalistischen Apparates folgt. Moretti ist ein weiterer Argento-Stratege, der dem Mörder in so mancherlei entspricht: Wie er ist auch Moretti ein Ästhet, ein Gefühlsmensch, der seiner Eingebung letztlich mehr vertraut als stumpfer Bürokratie. Wie der Mörder sich Stück für Stück das Kindergedicht "erarbeitet", so muss auch Moretti alles daran setzen, die Erinnerung an den "Nursery Rhyme" wieder zusammenzusetzen. Der Mörder inszeniert seine Mordtaten, ist Künstler in jeder Beziehung, und auch wenn seinen Untaten im Resultat nichts Gutes beizumessen ist, so folgt er doch dem ihm eigenen Gesetz der Schönheit, das auch Moretti instinktiv begreift. Die Morde etwa basieren auf den Romanen des Thrillerautors, die wiederum auf dem (übrigens von Asia Argento verfassten!) Kinderreim basieren. Als ob diese Kunstfertigkeit noch nicht genügen würde, hat der Mörder die Zeilen aus dem ANIMAL FARM betitelten Gedicht in einer Ausgabe von Orwells Utopie gleichen Namens versteckt ... Uffa, ein beunruhigender Sinn für Schönheit, fürwahr!

Fans von Argento können sich einen Spaß daraus machen, die zahlreichen Bezugnahmen auf frühere Filme herauszulesen, aber der Film schlägt insbesondere in seinem letzten Drittel einen Weg ein, den vorher noch kein anderer Argento beschritten hat und den ich hier nicht verraten darf, um den Spaß nicht zu verderben. Ich möchte es dabei belassen, zu versichern, dass das Finale des Films todspannend ist, und was den darstellerischen Leistungen in der ersten Hälfte des Filmes abgeht, macht die zweite Hälfte mehr als wett. Macht Euch Eure eigenen Gedanken über die Bedeutung der mysteriösen Kamerafahrt am Schluss, wenn dem Mörder die Kamera seitwärts über das Gesicht, über die Ohren gleitet, um dann auf dem Hinterkopf zu verharren! Lasst Euch vom bizarren Charme der mittlerweile unvermeidlichen Computereffekte angenehm verwirren, wenn sich die Tiere des Kinderreimes als Pop-Up-Buch aufzustellen scheinen. Selbst so verwirrende Regieeinfälle wie die lange, lange Kamerafahrt über den Läufer, der von verschiedenen Füßen gekreuzt wird und dann in einen Schatten mündet, der nur eins verkündet, nämlich den Tod, haben ihren Platz in dem ästhetischen Reigen, den Dario Argento hier auf den Zuschauer herabbeschwört.

Max von Sydow ist in der Hauptrolle absolut blendend und versieht seinen Moretti mit einem väterlichen Charme, der vergessen macht, dass sein Lieblingspapagei mit den Tieren des Killers konferiert ... Auch in der englischen Fassung (in der er sich natürlich selbst spricht), wirkt er absolut bombig. Lavia ist auch toll und hat einen schönen TENEBRE-Effekt, den ich aber nicht näher erläutern möchte. Der junge Stefano Dionisi als Lorenzo ist auch exzellent und gibt einen vorbelasteten Twen mit trügerischen Geheimnissen. Und als Asia-Ersatz ist auch Chiara Caselli eine Wolke, welche die Gloria nicht nur als seichte Damsel-in-Distress mimt, sondern ihr durchaus mehrdimensionale Impulse mit auf den leidenvollen Weg gibt ...

Über Ronnie Taylors Kamera habe ich mich schon geäußert. Bleibt nur noch die Filmmusik von GOBLIN, die Fans bereits seit langem auf CD haben. Simonetti hat auch hier wieder ein sehr evokatives Gemenge aus gotischen Orgelakkorden, Progressivrock und Spieldosenklängen gezaubert, das nicht nur Kinozuschauern die Schuhe ausziehen wird.

So, ich verrate keinen Deut mehr! Der Meister ist wieder im Sattel - reitet mit zuhauf ...

© CHRISTIAN KESSLER

 

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